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Reich und doch arm?

Im Blickpunkt
Von Dr. Heino Klingen

04.04.2016

Es vergeht kaum noch ein Tag, an dem nicht die ungleiche Verteilung von Vermögen, Einkommen und Chancen in unserem Land beklagt wird. Deutschland – so der Tenor – werde immer ungerechter. Diese Sicht deckt sich mit dem Bauchgefühl weiter Teile der Bevölkerung. Grund genug für uns, das Thema Ungleichheit in seinen verschiedenen Facetten näher in den Blickpunkt zu nehmen und ihm mehrere Beiträge zu widmen. Zum Auftakt fragen wir anlässlich des im Februar erschienenen Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Ist Deutschland wirklich so arm, wie er uns glauben machen will?

Noch nie ging es den Deutschen so gut wie heute. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und die Beschäftigung befinden sich auf Rekordniveau. Die Preise sind stabil und um unsere niedrige Arbeitslosigkeit werden wir weltweit beneidet – insbesondere von unseren unmittelbaren Nachbarn. Doch statt gelassen darüber nachzudenken, wie der Wohlstand gesichert und weiteres Wachstum entfacht werden kann, leistet sich unser Land eine Gerechtigkeitsdebatte, in der immer öfter der Ruf nach einem sozial- und steuerpolitischen Kurswechsel zu hören ist. So erst jüngst wieder durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Die Medien verdichten die Botschaften in griffigen Überschriften: Die Armut wächst. Die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt zu. Die Mittelschicht schrumpft. Wohlstand nur noch für wenige. Der Zusammenhalt der Gesellschaft bröckelt. Das ist das gängige Narrativ, das nun schon seit geraumer Zeit an den Stammtischen hochkocht und in Talkshows einem breiten Publikum serviert wird. Üppige Banker-Boni und Millionen-Gehälter von DAX-Vorständen genügen dabei meist als Stichworte, um allgemeine Zustimmung zu finden.

Doch ist dieses Narrativ auch richtig? Trifft das weit verbreitete Bauchgefühl über ungerechte Zustände die Wirklichkeit in unserem Land? Wenn ja, wäre das eine Bankrotterklärung für das Erhardsche Vermächtnis, welches „Wohlstand für alle“ versprach. In diesem Fall bestünde in der Tat dringender politischer Handlungsbedarf.

Arm ist nicht gleich arm

Der Begriff Armut erzeugt mitleiderregende Bilder in unseren Köpfen – von Menschen, die in Mülleimern nach Essen oder Pfandflaschen kramen, die als Obdachlose auf der Straße schlafen oder in Suppenküchen Schlange stehen. Diese Menschen sind zweifellos arm, und zwar in einem absoluten Sinne. Sie leiden Not, weil sie von ihrem Geld nicht leben können. Wer mit offenen Augen durch unsere Städte geht, weiß, dass es nicht wenige sind, denen es so ergeht. Berechnungen des Statistischen Bundesamtes sagen, dass rund jeder zwanzigste Bundesbürger dieses Schicksal teilt.

Es wäre allerdings verfehlt, mit diesen Assoziationen die amtliche Armutsstatistik zu interpretieren. Denn die darin erfassten Personen sind in einer ganz anderen Lebenssituation. Sie haben üblicherweise eine feste Bleibe, ein regelmäßiges Einkommen und leiden nicht unter materiellen Entbehrungen. Allerdings: Ihnen geht es schlechter als den meisten Mitbürgern, weil sie über deutlich weniger Geld verfügen. In der EU hat sich für diesen Sachverhalt seit nunmehr 30 Jahren der Begriff der relativen Armut eingebürgert. Danach gilt eine Person als relativ arm, wenn ihr Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung beträgt. Diese Armutsschwelle beträgt gegenwärtig rund 1.000 Euro im Monat.

Das Konzept der relativen Armut ist nicht ohne Probleme. Ein Einwand ist, dass eine gleich große Erhöhung aller Einkommen keinen Einfluss auf die Armutsquote hat. So würde etwa eine Verdoppelung sämtlicher Einkommen die Armutsquote unverändert lassen. Das erscheint in der Tat paradox: Allen geht es absolut besser und trotzdem bleibt die Armutsquote gleich. Das widerspricht unserem Alltagsverständnis von Armut.

Dennoch transportiert dieses Konzept eine richtige Einsicht: Nicht Obdachlosigkeit, Nahrungsmangel und sonstige materielle Entbehrungen sind die allein entscheidenden Gründe für Armut. Mindestens ebenso wichtig ist das gesellschaftliche Umfeld. Je wohlhabender dieses ist, desto mehr muss jeder Einzelne haben, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können und nicht von der vorherrschenden Lebensweise ausgeschlossen zu werden. Das Konzept der relativen Einkommensarmut versucht, diesem Ansinnen gerecht zu werden.

Strittig und willkürlich an diesem Konzept ist die 60-Prozent-Grenze. Warum nicht 40 oder 50 Prozent? In den Anfängen der Armutsforschung wurden mit diesen Schwellenwerten noch unterschiedliche Grade der Armut voneinander abgegrenzt. Wer weniger als 40 Prozent des mittleren Einkommens hatte, galt als „streng arm“, mit weniger als 50 Prozent war man „arm“ und mit weniger als 60 Prozent „armutsgefährdet“. Diese Abstufungen sind im Laufe der Jahre verloren gegangen. Heute dient nur noch die 60-Prozent-Schwelle als Maßstab für die Armutsmessung.

In 2014 fielen in Deutschland 15,4 Prozent der Bevölkerung unter diese Schwelle. Gegenüber dem Vorjahr war das zwar ein Rückgang um 0,1 Prozentpunkte. Diese minimale Verbesserung ändert aber nichts an der Tatsache, dass relative Armut in Deutschland ein Massenphänomen ist, das rund 12,5 Millionen Bundesbürger trifft. Das ist kein Pappenstiel. Dennoch: Die Zahl allein sagt noch nichts darüber aus, ob wir ärmer werden oder nicht. Hierzu muss man auf den Trend schauen: Wächst die Armut oder schrumpft sie?

Kein Anstieg der Armut ...

Geht man bis zur Jahrtausendwende zurück, dann zeigt sich vor allem für die Jahre bis 2005 eine doch recht deutliche Zunahme der Armutsbedrohung. Seitdem hat sie sich aber in etwa auf diesem Niveau gehalten. Ob der in 2014 gemessene Rückgang der Armutsquote den Anfang einer Trendwende nach unten markiert, dürfte angesichts des hohen Migranten- und Flüchtlingszustroms aber eher unwahrscheinlich sein. Fürs Erste bleibt aber festzuhalten, dass die Not bei uns in den vergangenen zehn Jahren entgegen vielen anderslautenden Berichten nicht größer geworden ist.

... stattdessen Teilhabe am Wohlstandsgewinn

Nun könnte man vermuten, dass die Einkommen der Ärmeren nicht in dem Maße angewachsen sind wie der gesellschaftliche Wohlstand. In der Bevölkerung dürfte diese Meinung stark verbreitet sein. Sie trifft aber nicht zu. Denn das mittlere Einkommen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit 46 Prozent nur unwesentlich hinter dem Anstieg des Bruttoinlandprodukts (+ 51 Prozent) zurückgeblieben. Von 2006 an gerechnet ist das BIP mit 22 Prozent sogar einen Prozentpunkt langsamer gewachsen als das mittlere Einkommen (+ 23 Prozent). Kurzum: Das Bruttoinlandsprodukt und das mittlere Einkommen marschieren seit zwei Jahrzehnten mehr oder weniger im Gleichschritt bergauf. Für sozialpolitischen Alarmismus gibt es also keinen Grund.

Das ergibt sich im Übrigen auch schon aus der Betrachtung jener Gruppen, die von Armut besonders betroffen sind. Neben den Erwerbslosen und Rentnern sind das Alleinerziehende und junge Erwachsene, insbesondere Studenten und Auszubildende, die in einem eigenen Haushalt leben. Während sich bei den Erwerbslosen kaum Veränderungen feststellen lassen, hat sich das Armutsrisiko junger Erwachsener und Alleinerziehender merklich erhöht. Dahinter stehen gesellschaftliche Entwicklungen: Bei den Jugendlichen der verstärkte Wunsch nach einem Hochschulabschluss und bei Frauen das Schicksal, nach Trennungen als Alleinerziehende für die Kinder verantwortlich zu sein. Beides wirkt sich negativ auf die Armutsstatistik aus. Das sollte uns aber nicht weiter beunruhigen. Denn Studierende sind ohnehin nur vorübergehend Gast in dieser Statistik. Und für Frauen sollten sich mit dem fortschreitenden Ausbau von Kinderkrippen, Kindergärten und sonstigen Betreuungseinrichtungen künftig immer bessere Möglichkeiten der einfacheren Vereinbarkeit von Beruf und Familie ergeben. Insofern steigen für Alleinerziehende die Chancen, eine Arbeitsstelle mit ausreichendem Einkommen zu finden. Sozialpolitischer Handlungsbedarf besteht hier nicht.

Mit Bildung die Ungleichheit bekämpfen

Wir sollten uns die Welt nicht schön reden. Und schon gar nicht das Leben der Menschen, die mit deutlich weniger Geld über die Runden kommen müssen als die meisten Mitbürger. Der Status quo ist verbesserungswürdig. Es ist das Verdienst des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, uns mit seinen jährlichen Armutsberichten immer wieder darauf hinzuweisen.

Zu wünschen wäre allerdings, dass der Verband künftig seine politischen Schlussfolge-rungen besser auf den empirischen Befund abstimmt. Die Behauptung, dass ärmere Bevölkerungsschichten von der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums abgekoppelt seien, ist so eine nur schwer nachvollziehbare Aussage. Sie ist empirisch nicht gedeckt und lenkt vor allem ab von der eigentlichen Zukunftsaufgabe der Politik – dem Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes. Diese lässt sich ganz sicher nicht dadurch sichern, dass die Reichen geschröpft werden und den Armen gegeben wird.

Hierzu bedarf es vor allem höherer Investitionen in die Infrastruktur und einer noch stärkeren Fokussierung auf den Bildungsbereich. Letzteres auch, um die Chancengleichheit zu verbessern. Mehr frühkindliche Bildung ist der beste Garant gegen Ungleichheit und die staatliche Investition mit der höchsten Rendite.

Nach allem was wir wissen, haben die äußeren Lebensumstände in der Kindheit einen maßgeblichen Einfluss auf die späteren Verdienstmöglichkeiten. In Großbritannien erklären sie ein Drittel und in den USA fast die Hälfte der Einkommensunterschiede. Dass durch forcierte Anstrengungen beim Ausbau von Krippenplätzen, Ganztagskindergärten und gebundenen Ganztagsschulen auch die Erwerbschancen von Alleinerziehenden steigen, ist dabei ein höchst willkommener Nebeneffekt.