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Europa: Die Krise als Chance nutzen

Von Volker Giersch Kommentar

01.07.2005

Die Zustimmung zum europäischen Einigungs- und Erweiterungsprozess schwindet mehr und mehr. Skepsis und Unbehagen gewinnen die Oberhand. Das haben die Volksabstimmungen über die europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden in aller Deutlichkeit gezeigt. Die mehrheitliche Ablehnung gilt dabei allem Anschein nach weniger dem Verfassungswerk selbst als vielmehr der EU-Politik im Ganzen und insbesondere dem hohen Tempo der EU-Erweiterung.

Ängste und Skepsis machen sich vor allem in jenen Ländern breit, in denen die Wirtschaftsdynamik gering, die Arbeitslosigkeit hoch und der Reformprozess schmerzhaft ist – in Deutschland, Frankreich und Italien etwa. Viele Menschen sehen die Osterweiterung dort als eine Art „Globalisierungs-Turbo“, der die Lohn-, Steuer- und Standortkonkurrenz innerhalb Europas zusätzlich verschärft und den eigenen Wohlstand gefährdet. Sie fühlen sich den Kräften des Marktes ungeschützt und weitgehend hilflos ausgeliefert. Das schürt Ängste und nährt Politikverdrossenheit.

Wirtschafts- und Währungsunion ...

Wer den Prozess der europäischen Einigung vorantreiben will, muss diese Ängste und Bedenken ernst nehmen und ihnen mit überzeugenden Argumenten den Boden entziehen. Gefragt sind vor allem Information und ökonomische Aufklärung. Dazu gehört es auch, den Menschen die Vorteile der fortschreitenden wirtschaftlichen Integration in Europa deutlich zu machen. Und die sind beträchtlich:

Fakt ist erstens, dass die Wachstumsschwäche und Arbeitsmarktmisere in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien nur zum kleinsten Teil mit Fehlern der EU, keineswegs mit dem Euro und im Kern auch nicht mit der Globalisierung zu tun haben. Sie beruhen vielmehr ganz überwiegend auf Fehlentwicklungen innerhalb der Mitgliedsstaaten.

Fakt ist zweitens, dass wir ohne die EU nicht besser, sondern noch schlechter dran wären. Das trifft auch und gerade für Deutschland zu. Denn unser Land profitiert wie kaum ein zweites von dem europäischen Binnenmarkt. Immerhin macht er es möglich, rund 455 Millionen Verbraucher mit Gütern und Dienstleistungen zu beliefern - ohne Zollbarrieren und fast frei von tarifären Handelshemmnissen. Denn die weitreichende Anwendung des Ursprungslandprinzips stellt sicher, dass die Unternehmen ihre Produkte nicht mehr den unterschiedlichen Rechtsnormen der Mitgliedsstaaten anpassen müssen. Das fördert den Wettbewerb, vergrößert das Marktvolumen und vertieft die Arbeitsteilung – beste Voraussetzungen also für mehr Wohlstand in Europa.

Fakt ist drittens, dass die gemeinsame Währung den Unternehmen überflüssige Transaktionskosten erspart und all jene Unwägbarkeiten beseitigt hat, die zuvor mit den Folgen abrupter Wechselkursänderungen verbunden waren. Investitionen werden dadurch besser kalkulierbar, die Handelsströme verlaufen stetiger.

Fakt ist viertens, dass die EU der entscheidende Schrittmacher zur Liberalisierung ehemals staatlich regulierter Märkte war und ist. Ihr ist es zu verdanken, dass es in so wichtigen Wirtschaftsbereichen wie Energie, Telekommunikation und Verkehr gelungen ist, die Märkte zu öffnen, die Wirtschaftlichkeit zu verbessern und die Innovationsdynamik zu stärken. Der Standort Europa hat davon profitiert.

Fünftens schließlich gehört ins Bild, dass auch die Osterweiterung positive Impulse für Wachstum und Beschäftigung gibt. Sie ermöglicht es unserer Wirtschaft, innerhalb Europas leistungsfähige Wertschöpfungsketten aufzubauen, die die spezifischen Vorteile von Hochlohn- und Niedriglohnländern miteinander verbinden; dies dank der EU-Erweiterung jetzt mit geringerem Bürokratieaufwand und mit einem höheren Maß an Rechtssicherheit. Entwicklung, Konstruktion und technologieorientierte Produktion in Deutschland oder Skandinavien, kostengünstige Fertigung in Polen oder Tschechien – das macht Europas Wirtschaft im Weltmaßstab wettbewerbsfähiger. Zudem profitiert Westeuropa davon, dass die Märkte in Osteuropa mit überdurchschnittlichen Raten wachsen und dass unsere Wirtschaft – was die wenigsten wissen - mehr Güter und Dienstleistungen dorthin liefert als sie von dort bezieht.

...verbessert Wettbewerbsposition Europas

Insgesamt stärken der Binnenmarkt, die Osterweiterung und die Währungsunion die Position der europäischen Wirtschaft im interkontinentalen Wettbewerb beträchtlich. Sie verbessern die Chancen, dass Europa mit den Wachstumsmärkten in Amerika und Asien künftig besser Schritt halten kann. Sichtbar und wirksam wird das freilich erst dann, wenn die großen Mitgliedsstaaten ihre wirtschafts-, sozial- und finanzpolitischen Hausaufgaben energisch angehen und dadurch die nötigen Wachstumsspielräume im Innern schaffen.

Vor Augen führen sollten wir den Europa-Skeptikern zugleich, dass eine enge und erfolgreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit die beste Gewähr zur Sicherung des Friedens bietet.

Alles in allem ist die Wirtschafts- und Währungsunion also eine Erfolgsstory. Doch Europa will ja mehr sein als das. Es will auch politisch stärker zusammenwachsen. Und dazu brauchen wir – zumindest für die zentralen Handlungsfelder – endlich eine klare Orientierung; ein Leitbild, das Lust macht auf eine gemeinsame Zukunft. Davon sind wir derzeit noch weit entfernt, auch, weil die Grundauffassungen über die Zielrichtung der weiteren politischen Integration noch weit auseinander liegen. Das spüren die Menschen. Und das irritiert sie.

Europa braucht ein Leitbild

Die Politik sollte die aktuelle Krise als Chance sehen. Sie sollte den nötigen inhaltlichen Klärungsprozess in Gang setzen und die Substanz der europäischen Idee klar und im Konsens definieren. Vier Leitgedanken sollten dabei Orientierung bieten:

Erstens ist im EU-Haushalt auf der Ausgabenseite zügig umzusteuern – weg von den Agrarsubventionen, die fast die Hälfte der Mittel verschlingen, hin zu Zukunftsinvestitionen, die den Standort Europa stärken. Infrastrukturausbau und Investitionen in Bildung und Forschung sind die Stichworte.

Zweitens sollte sich Europa konsequent an der Maxime orientieren: So viel gemeinsame Politik wie nötig, so viel Systemwettbewerb und Vielfalt wie möglich. Das sorgt für die nötige Innovationskraft auf politischer Ebene. Eine Sozial- und Steuerunion brauchen wir nicht!

Drittens gilt es, den finanziellen Ausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten schrittweise abzuschmelzen. Denn alle Erfahrung lehrt: Die besten Chancen aufzuholen erwachsen nicht aus Finanztransfers, sondern aus der Öffnung der Märkte und aus einer wirtschaftsfreundlichen Standortpolitik. Letzteres ist dann freilich zu allererst Aufgabe der nationalen Regierungen.

Viertens gilt es, im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nationale Eitelkeiten zu überwinden und stattdessen die umfangreichen Vorteile einer arbeitsteiligen Zusammenarbeit zu nutzen.

Wenn die Schockwelle, die von den Volksentscheiden in Paris und Den Haag ausging, den Klärungsprozess in diese Richtung vorantreibt, dann wird die europäische Idee bei den Bürgern bald wieder breitere Zustimmung finden. Und dann werden sich auch die Chancen rasch verbessern, die nötigen Mehrheiten für eine zukunftsweisende europäische Verfassung zu erreichen.