Positionen

Kennzahl: 17.878

Falsches Rollenverständnis

Von Volker Giersch
Kommentar

01.05.2003

Heftig umstritten ist sie zur Zeit: Die vom Bundeskanzler vorgelegte Agenda 2010, die Deutschland wieder mehr Wirtschaftsdynamik und höhere Beschäftigung bringen soll. Die Reformansätze – darin sind sich Opposition, Ökonomen und Wirtschaftsverbände einig – zielen zwar in die richtige Richtung. Doch reichen sie bei weitem nicht aus, die notwendige Wende auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen. Gänzlich anders sieht es der linke Flügel der SPD. Dort formiert sich massiver Widerstand gegen den geplanten Umbau der sozialen Sicherung.

Die Speerspitze des Widerstandes bilden die Gewerkschaften. Sie sehen sich, so der saarländische DGB-Vorsitzende Eugen Roth, als „das letzte Bollwerk gegen einen ungezügelten Turbo-Kapitalismus“. Als einzige verbliebene Gegenmacht wollen sie sich mit aller Kraft der „Vermarktlichung aller Lebensbereiche“ und dem „Terror der Ökonomie“ entgegenstemmen (Jürgen Peters, designierter IG-Metall-Chef).

Deutschland am Rande des Turbo-Kapitalismus? Die rot-grüne Bundesregierung auf neoliberalen Irrwegen? Unsere Republik gefährdet durch ökonomischen Terror? In welcher Welt leben die Gewerkschaften eigentlich?

Die deutsche Realität sieht jedenfalls gänzlich anders aus. Wir leben seit vielen Jahren deutlich über unsere Verhältnisse. Wir leisten uns die kürzesten Wochenarbeitszeiten, die meisten Urlaubs- und Feiertage, die längsten Studienzeiten und die kürzeste Lebensarbeitszeit. Der Kündigungsschutz ist rigider als anderswo. Die soziale Sicherung verschlingt mehr als 42 Prozent der Bruttolöhne. Sie ist geprägt durch Vollkaskomentalität und Ineffizienz. Die Kosten explodieren. Den Arbeitnehmerorganisationen gewähren wir über Betriebsverfassung und Tarifautonomie eine weltweit einzigartige Machtfülle. Die steuerliche und sozialstaatliche Umverteilungsmaschinerie hat geradezu kaffkaeske Ausmaße angenommen. Und das Schlimmste von allem: Wir leisten uns einen Arbeitsmarkt, der eigentlich keiner ist. Dies mit der verheerenden sozialen Folge, dass bald fünf Millionen Menschen ohne Arbeit sind.

All das ist ziemlich genau das Gegenteil von Turbo-Kapitalismus. Wir leiden nicht unter zu viel Marktwirtschaft, sondern unter zu viel Staatswirtschaft, unter einem überdimensionierten Sozialstaat und unter zu vielen leistungshemmenden Fesseln. So sehen es nicht nur die ökonomisch Sachverständigen hierzulande, sondern auch Beobachter aus aller Welt.

Zu Kompetenz gehört Verantwortung

Befremdlich ist nicht nur die Sichtweise, sondern auch das Rollenverständnis der Gewerkschaften. Sie machen Politik und Wirtschaft für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich, obwohl sie doch selbst - als Hauptakteure auf dem Arbeitsmarkt - weitaus stärker in der Verantwortung stehen. Schließlich entscheiden sie - gemeinsam mit den Verbänden - über den Preis der Arbeit und mithin auch darüber, wie viel Arbeit sich in unserer Volkswirtschaft rechnet.

Auf anderen Märkten erleben wir es täglich: Je höher der Preis, desto geringer die nachgefragte Menge. Und wir wissen: Nachfrage ist genug da, aber eben nicht zu jedem Preis. Das gilt uneingeschränkt auch für den Arbeitsmarkt. Steigen die Arbeitskosten zu stark, dann gehen zwangsläufig Arbeitsplätze verloren. Der Fall war dies vor allem bei den einfachen Tätigkeiten. Nach überhöhten Tarifabschlüssen am unteren Ende der Lohnskala wurden diese weitgehend durch Maschinen ersetzt oder ins Ausland verlagert. Leidtragende waren die Geringqualifizierten, die mehr und mehr ins Abseits des Arbeitsmarktes gerieten.

Auf den engen Zusammenhang zwischen Arbeitskosten und Beschäftigung hat kürzlich auch der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, hingewiesen. In unserer IHK hat er eine Studie seines Hauses zitiert, wonach ein Prozentpunkt weniger bei den Lohnnebenkosten rund 100.000 Arbeitsplätze zusätzlich bringt. Gleiches gilt natürlich auch für die Lohnhauptkosten.

Ein wachsender Teil der Arbeitslosigkeit ist in Deutschland struktureller Natur. Das ist immer auch ein Indiz für falsche Lohnstrukturen und zu hohe Arbeitskosten. Deshalb müssen wir uns im Interesse der Arbeitslosen rasch auf eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik und auf eine Absenkung der Lohnnebenkosten verständigen. Entscheidend ist:: Der Anstieg der Arbeitskosten muss für mehrere Jahre spürbar hinter dem Zuwachs der Produktivität zurückbleiben – und zwar vor allem in den unteren Lohngruppen. Dann können wir die Geringqualifizierten schrittweise wieder in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Um „ working poor“ zu vermeiden, sind die Nettolöhne gegebenenfalls durch Sozialtransfers aufzustocken. So geschieht es etwa in den USA über das Instrument der negativen Einkommensteuer.

Eigentlich müssten die Gewerkschaften mit Herz und Verstand für diese oder ähnliche Vorschläge streiten. Denn nur so können sie ihrer Verantwortung für die Beschäftigung gerecht werden. Die Politik hat es leider versäumt, ihnen diese Verantwortung mit Nachdruck zuzuweisen. Schlimmer noch: Sie tut seit jeher das genaue Gegenteil, indem sie uns vorgaukelt, das Problem Arbeitslosigkeit aus eigener Kraft lösen zu können. Das ist nicht nur törichte Selbstüberschätzung. Es leistet zugleich auch dem falschen Rollenverständnis der Gewerkschaften Vorschub.

Letztlich führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen in aller Deutlichkeit klarstellen, dass zu gesetzlich verankerten Tarifautonomie zwingend auch die Verantwortung der Tarifpartner für ein hohes Beschäftigungsniveau gehört. Wo Entscheidungskompetenz ist, da dürfte Verantwortung und Haftung nicht fehlen. Ansonsten funktioniert das System nicht.

Die Arbeitgeberverbände plädieren bereits seit langem für eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik, konnten diese aber nicht durchsetzen. Sie haben zugleich Vorschläge unterbreitet, wie die Lohnnebenkosten begrenzt und die Geringqualifizierten wieder in Arbeit gebracht werden können. Stichwort Kombilohn. Es ist höchste Zeit, dass auch die Gewerkschaften endlich auf einen Kurs der ökonomischen Vernunft einschwenken. Wir brauchen ihn in der Lohnpolitik ebenso dringend wie in der Sozialpolitik.