Reformen vorläufig Fehlanzeige - dennoch ist der Koalitionsvertrag besser als sein Ruf
IHK Vizepräsident Rolf Schneider zur Diskussion über eine
Erhöhung der Mehrwertsteuer
Kolumne
01.12.2005
Dabei sind die meisten Bürger schon weiter, als viele in der Politik glauben. Sie wissen, dass wir in Deutschland Reformen brauchen, um unsere Wachstumsschwäche zu überwinden. Und sie wissen auch, dass die öffentlichen Haushalte und die Sozialkassen saniert werden müssen. Strittig ist allein die Frage, in welcher Reihenfolge: Sollen zunächst die Reformen angepackt oder erst die Staatsfinanzen saniert werden? Oder beides gleichzeitig? Die Große Koalition hat sich für einen dreistufigen Fahrplan entschieden, wobei die Richtung und die einzelnen Etappen der Reise klar vorgegeben sind. Manches soll allerdings erst während der Fahrt geregelt werden.
Im ersten Regierungsjahr werden hauptsächlich Dinge angepackt, die dem Bürger (noch) nicht wehtun und Unternehmen entlasten. Die Stichworte lauten: Lockerung des Kündigungsschutzes, Wegfall der Eigenheimzulage und steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen. Während letzteres eher als Instrument gegen die Schwarzarbeit gedacht ist, soll die ebenfalls im nächsten Jahr einsetzende Verbesserung der Abschreibungsbedingungen als Konjunkturtreiber wirken. Die Regierung setzt damit voll und ganz darauf, dass die Konjunktur rasch kräftig anzieht. In dieses Szenario passt im Übrigen auch, dass die Regierung für nächstes Jahr noch ein Defizit von 41 Milliarden Euro hinnehmen will. Soviel “deficit spending” gab es noch nie.
Ab 2007 greift die zweite Stufe des Regierungsprogramms. Die konjunkturelle Schonfrist ist dann passé. Parallel zur Mehrwertsteuererhöhung soll – vor allem mit Blick auf die sozialdemokratische Klientel - die Reichensteuer in Kraft treten. Da gleichzeitig auch die Sozialversicherungsbeiträge sinken, lässt sich nur schwer prognostizieren, wie sich die einzelnen Maßnahmen in der Summe auf die Konjunktur auswirken. Viel wird davon abhängen, in welcher Verfassung die Wirtschaft in dieses entscheidende Jahr geht. Ist der Aufschwung kräftig genug, dann hat das Programm eine Chance auf Erfolg. Bleibt er aus, dann könnten wohl nur schnelle Fortschritte auf den jetzt ausgeklammerten Reformbaustellen die Koalition vor einem vorzeitigen Aus bewahren.
Aber auch unabhängig von der dann aktuellen Wirtschaftslage steht der neuen Regierung die eigentliche Bewährungsprobe erst in ihrer dritten Phase ab 2008 bevor. Denn dann geht es um die Reformen im Gesundheitssystem, bei den Unternehmenssteuern, der Pflege und im Niedriglohnbereich. Es muss kein Nachteil sein, dass diese Bereiche vorerst ausgeklammert wurden. Wie schnell selbst grundsätzlich richtige Reformen durch handwerkliche Fehler desavouiert werden können, wissen wir spätestens seit Hartz IV. Die Regierung ist deshalb gut beraten, bei diesen tiefgreifenden Reformvorhaben nach dem Grundsatz “Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit” zu verfahren. Dass Schwarz-Rot nicht nur dem Bürger Veränderungen abverlangt, sondern auch selbst dazu bereit ist, zeigt die Einigung bei der Föderalismusreform. Die Koalition sollte aber bei diesem ersten Schritt nicht stehen bleiben und als nächstes auch die Finanzbeziehungen zwischen den Gebietskörperschaften auf ein neues Fundament stellen.
Zugegeben: Die Wirtschaft hätte sich eine andere Regierung gewünscht. Und auch der Koalitionsvertrag hat viele in der Wirtschaft zunächst enttäuscht. Dennoch: Er ist besser als sein Ruf. Richtung und Fahrplan stimmen. Der Weg bleibt allerdings steinig. Da kommt es gerade Recht, dass die gute Weltkonjunktur weiterhin Rückenwind verspricht. Gelingt es der Regierung ein Klima des Vertrauens und der Verlässlichkeit zu schaffen, dann könnte der Exportfunke endlich auf die Binnenkonjunktur überspringen. Dieses Quäntchen Glück sollten wir ihr in unser aller Interesse wünschen.